BEI EINBRUCH DER DUNKELHEIT

Bei Einbruch der Dunkelheit, wenn alles schläft und selbst der Wald in tiefe Schwärze gefallen ist, bist du immer noch wach im schwachen Licht deiner Öllampe. Alle Lebewesen auf dieser Erde ruhen in ihrer natürlichen Umgebung und werden von einer gutmütigen Stille umhüllt. Nichts rührt sich, nicht mal das Laub der Bäume bewegt sich, es ist eine ruhige, friedliche Nacht. Du blickst zurück auf die Geschehnisse des Tages und die Rückschläge, die du erdulden musstest, diese Abwehr gegen deine Weisheiten und Lehren, die du mit Begeisterung weitergibst. Es fühlt sich an, als würde dich ein Bleiklotz im Meer versinken lassen, sodass du keine Luft mehr bekommst, bis du den Meeresgrund erreichst. Bewusstlos bleibst du liegen und rührst dich nicht mehr.

Was nützt all dieser Aufwand, wenn dir niemand zuhört? All deine Reden, deine Lehren und deine Erziehung scheinen vergeblich gewesen zu sein und sich in Luft aufzulösen. Jede Anstrengung ist nutzlos, jede Weisheit ist in den Wind geworfen, wenn auf der anderen Seite niemand da ist, der dir aufmerksam zuhört und deinen wertvollen Rat schätzt und deine Lebenserfahrung annimmt. Doch gerade dann, wenn du meinst, alles sei umsonst, hört dir jemand zu und nimmt jeden Teil von dir wahr, vielleicht sogar eine kleine Geste von dir, eine verborgene Seite, die sie vorher nicht kannte. Und sogar dein Schweigen verwandelt sich in eine magische Atmosphäre.

Bei Einbruch der Dunkelheit, wenn sie dein strenges Gesicht und deinen traurigen Blick betrachtet, ist es ganz natürlich, dass sie sich tausend Fragen stellt. Zum Beispiel, warum sie hier auf der Erde ist, warum sie lesen oder schreiben lernen muss. Oder warum das Leben einfach an sie vorbeizieht. Aber auch eine öde Landschaft kann farbig gestaltet und in eine lebendige Bühne verwandelt werden. Im Leiden lernen wir zu leben und auch still und im Reinen mit uns selbst zu sein. Und im schwachen Licht deiner Öllampe versuchst du zu verstehen, warum du sie so sehr liebst.

Du stehst von deinem Stuhl auf und wanderst ziellos umher, bis du merkst, wie sehr sie dir fehlt. Wo ist ihr Licht, wo ist ihre Seele und für einen Moment denkst du, du wirst verrückt und ertrinkst in deiner Verzweiflung. Aber dann, als du deinen Blick dem Himmel ausrichtest, breitet sich ein unendliches Firmament vor deinen Augen aus. Du betrachtest ihn ungläubig, fast närrisch und fragst dich, wie so viel Schönheit überhaupt möglich ist. Du möchtest deine Arme ausstrecken und mit deinen Händen vorsichtig einen Stern ergreifen, um ihn ihr zu schenken, um ihr einen langersehnten Traum zu erfüllen. Oder vielleicht ist es besser, ihn in deine Tasche zu stecken und nicht mehr an sie zu denken. Du möchtest auch die Mondsichel einfangen, damit sie sich in ihren schönen, walnussbraunen Augen widerspiegeln kann. Du möchtest ihr Herz voller Melancholie erobern, aber am liebsten würdest du ihr die Unendlichkeit des Himmels schenken, damit sie sich geborgen fühlt. Denn das Schönste ist, wenn du bei ihr bist und sie mit Liebe überschüttest.

Die Öllampe beginnt zu flattern, wird immer kleiner, bis sie fast ganz erlischt. Der Kraftstoff geht langsam aus, und es ist Zeit, in die Dunkelheit zu versinken, obwohl es dir schwerfällt, dich von diesem wunderschönen Traum loszureißen. Deine Weisheiten und Lehren wirst du morgen wieder in Angriff nehmen, in der Hoffnung, dass dir jemand zuhört und nichts umsonst gewesen ist.

Denn bei Einbruch der Dunkelheit sind ihre natürliche Schönheit und ihre mitreissende Leidenschaft das Einzige, was dir noch geblieben ist. R.R. 



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