Sag mir warum

Es gab eine Zeit, da war die Erde noch unbewohnt und nur von einer dichten Pflanzenwelt und vielfältigem Tierreich umgeben. Es gab schäumende Meere und Ozeane, deren Wellen sich mal stürmisch, mal sanft, am Ufer brachen. Es gab Flüsse und Seen, deren Länge sich über weite Landfelder erstreckten. Das viele Wasser hatte Jahrtausende überdauert und war immer noch da, wie eine Schaukel, die die Erde im Gleichgewicht hielt.

Weit aussen, auf einer Insel, lebte eine Meerjungfrau. Ihr Unterleib war mit eine Flosse versehen, die smaragdgrün glitzerte und funkelte, während ihr Oberkörper eine menschliche Gestalt hatte. Sie konnte Stunden lang unter Wasser sein und wie ein Fisch schwimmen und tauchen. Manchmal setzte sich ans Land, auf einem Felsen, wo sie einen wunderschönen Blick auf das Meer hatte. Es gab auch ein Leuchtturm, der gelb-rot gestreift war und in der Nacht leuchtete. Die Meerjungfrau sass manchmal tagelang unter dem Leuchtturm, auf demselben Felsen und sang ein klangvolles Lied und spielte Harfe. Die Melodie war sehr herzzerreissend, dass man es auch in der Ferne hören konnte. Ihre Stimme war hoch und mitreissend, ihre Hände bewegten sich geschmeidig, während sie zart an die Saiten der Harfe zupften. Jeden Tag, zur gleichen Zeit, spielte sie immer wieder das gleiche Lied, bis eine Tages ein Delfin aus dem Wasser sprang. Er schimmerte grau-blau und machte Kopfsprünge, drehte Pirouetten in der Luft, vollbrachte echte Kunststücke, bis er mit einem waghalsigen Kopfsprung wieder unter Wasser tauchte. Dann sprang er wieder aus dem Wasser, machte einen hohen Bogen und pfiff dabei in hohen Tönen. Es klang wie eine schöne Melodie, und das fröhliche Pfeifen des Delfins durchbrach die Stille des Ozeans, während das Zischen der Wellen vom samtigen Harfenspiel der Meerjungfrau begleitet wurde. Sie war fasziniert von ihm und liess sich von ihm inspirieren und begeistern. Er lachte dabei fröhlich. Sie wurden gute Freunde, denn der Delfin kam jeden Tag, um die gleiche Zeit, um seine Kunststücke vorzuführen und vorzuzeigen. Sie wurden beste Freunde, denn sie hatten zusammen sehr viel Spass und hatten so einige Gemeinsamkeiten, die sie innig verband. Nebst das Schwimmen, auch die Liebe zur Musik und zum Wasser. Einmal schwammen sie sehr weit hinaus, auf das offene Meer zu, wo die Strömung viel stärker war, um die bunte Unterwasserwelt zu bestaunen. Es gab farbenprächtige Korallenriffe und riesige Meeresschildkröten, die unter dem Wasser schwerelos dahinglitten. Es gab auch lila blaue Seepferdchen und sandfarben gesprenkelte Rochen zu sehen. Als es fast eindunkelte und über den Ozean die Nacht einbrach, fand die Meerjungfrau den Rückweg nicht mehr. Der Delfin half ihr dabei, wieder nach Hause zurückzukehren. Sie hatte zum ersten Mal so etwas wie Angst verspürt, die Angst der Verlust.
 
So vergingen Jahrzehnte, voll freudiger Erwartung, bis eines Tages der Delfin nicht mehr auftauchte. Er war wie vom Meeresboden verschluckt worden, denn er liess sich auch die nächsten Tagen und Wochen nicht mehr blicken. Die Meerjungfrau war ab da an sehr traurig, und sie weinte so viel, dass sich die zerflossenen Tränen zu schweren, goldigen Perlen verwandelten und ins Meer fielen.
 
Man sagt, dass sie heute immer noch unter dem Leuchtturm sitzt, auf ihrem Felsen, mit dem Blick auf das offene Meer. Sie spielt immer noch mit der Harfe und singt beherzt ihr Liebeslied, bis tief in die Nacht hinein, bis das Firmament den Himmel, mit unzähligen von Sternen, bespickt. Das Lied, dass sie einst ihrem geliebten Freund Delfin gewidmet hatte:
 
Sag mir warum… warum lässt du dich von den Wellen des Meeres tragen?
 
Warum lässt du dich von den Sternen über dich besiegen?
 
Warum lässt du dich vom salzigen Wasser küssen?
 
Ein Delfin auf der Suche nach Freundschaft und Feierlichkeit!
Ein leidenschaftlicher Delfin, der sich für seine Umwelt begeistert, das ist es, was du bist! Aber sag mir warum… warum vermeidest du genau mich?
 
Meine Hand berührt deine glitschige, rutschige Haut. Du bist schwer zu fassen,
wie die Luft, die ich atme, schwer greifbar, auf jeden meiner Rückrufe.
Du widerspiegelst die Furcht in mir, diese schmerzhaft Angst vor einer verborgenen Gewissheit. Du wirst niemals mein sein, warum?
 
Ein Delfin der schwimmt, in der Tiefe der Ozeanen, Bewohner der marinen
Unermesslichkeit und Unergründlichkeit! Mit Eleganz und Hochmut bezwingst du Weltmeere und stürmische Flutwellen. Aber sag mir warum… warum wählst du nicht mich, als deinen geliebten Stern?
 
Es gab eine Zeit, da war die Erde noch unbewohnt und von Bergen, Seen und Flüsse umgeben. Ozeane, deren Meeresgrund noch unerforscht blieb und ein kostbarer Schatz verbarg. Wellen, die sich brachen, ein beharrliches Geräusch, während du dem Horizont entgegen schwammst. Fröhlich, heiter und selbst bestimmt. R.R.


         


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