ROMAN IHRES LEBENS (2)
Während die Wellen gegen die Felsen branden, steht sie da und beobachtet sie, Flut um Flut, ein Zeichen des unaufhaltsamen Laufs der Zeit. Das raue Geräusch hallt in ihren Ohren wider, während ihr Blick zum Horizont schweift. Sie sehnt sich danach, von der Klippe zu springen, in das salzige Wasser einzutauchen und die Gedanken zu ertränken, die sie in die Vergangenheit zurückführen. Sie ist es leid, immer wieder an dieselben Dinge zu denken, dieselben Dinge zu machen, aber gerade durch Gewohnheiten holen wir das Beste aus uns heraus. Vielleicht sieht sie dich eines fernen Tages wieder und kann dir gestehen, wie sehr sie dich liebte.
Wie
oft hat sie sich in Worten verirrt, Sätze durchgestrichen, Masken und Zweifeln
losgelassen und sich in unaufhaltsame Träume wiedergefunden.
Und da ist sie, während sie auf das Erwachen des Frühlings wartet, auf den Duft der blühenden Wiesen, den Geruch von Heu, der durch die Luft weht, mit einer neuen Hoffnung im Herzen, einer neuen Wiedergeburt, eine neue Errungenschaft. Und sie ist erschüttert von dieser überraschenden Wendung; sie hatte nicht erwartet, ihrem Traumprinzen im Wald zu begegnen, inmitten all der Vorurteile. Doch da steht er, zu ihren Füßen, verbeugt sich und küsst ihre junge, samtweiche Hand. Und doch verändert sich diese Hand, wird rau und kratzig. Und dann dieses laute, boshafte Lachen, das ihn scheuert und auf seinem weißen Pferd davonreiten lässt. In seiner Flucht verliert er seinen blau lackierten Schuh mit dem goldenen Band und verschwindet aus ihrem Blickfeld.
Sie
jagt ihm nach, sucht ihn, verliert seine Spur.
Sie
fleht alle Königreiche, alle Völker, alle Untertanen an, ihren Traumprinzen zu
finden, mit seinem goldenen Mantel, seinem blonden Haar, seinen hellblauen Augen,
so klar wie das schönste aller Meere, in dem sie versinken möchte.
Und sie ließ den blau lackierten Schuh mit dem goldenen Band von allen Sultanen, allen Herrschern dieser Erde, den Jüngern der Welt anprobieren.
Und
dann war da noch der Fischer, der mit dem Aufgehen der Sonne aufstand. Er saß
ruhig und zufrieden auf seinem kleinen Boot, doch er hatte die smaragdgrünen
Augen nie vergessen, die ihm einst ein Stück seines Herzens gestohlen hatten,
als er im Wald Pilze für seine Großmutter suchte. Und er hörte diesen Ruf aus
der Ferne, wie eine sanfte Stimme, die ihn näher zog. Er machte sich auf den
Weg, und als er das Dorf erreichte, reihte er sich ein, um den prächtigen Schuh
zu bewundern, von dem alle sprachen. Als er an der Reihe war, setzte er sich
auf den Thron und probierte den blau lackierten Schuh mit dem goldenen Band an.
Er passte ihm wie angegossen, und die verblüffte Königin traute ihren Augen
nicht. Sie verneigte sich vor ihm, küsste seine jungen, samtweichen Hände und
verfiel seinem Zauber.
Von da an herrschten und führten sie glückliche Völker und ihre Nachkommen viele Jahre lang, während sich der Wohlstand endlos ausbreitete.
Der Traum verschwand plötzlich mit dem Zischen der Wellen, die sich tosend ans Ufer brachen.
Sie sitzt still da und horcht ihrem eigenen Leben, als wäre es ein leises Rauschen, das nur sie hören kann. Die Erinnerungen kommen wie warmer Wind: nicht heftig, nur streifend, mit einem Hauch von dem, was sie einmal war und nie ganz verschwunden ist. Oft denkt sie, ihr Leben sei wie ein Roman, mit weichen Seiten. Manche sind kaum beschrieben, nur vorsichtige Wörter, behutsam gesetzt, damit sie nicht zerbrechen, dessen Kapitel ohne Ankündigung enden. Sie liest sich selbst wie in einem Buch, das schon viele Hände gehalten haben – abgegriffen, aber echt. Und sie hat gelernt, dass jedes Atemholen eine neue Zeile ist.
Noch
ist der Schluss nicht nah, nicht eben – die Feder ruht in ihrer Hand. Sie
schaut auf den Horizont, lässt los, was wehgetan hat und lässt wachsen, was
sich noch ungeschliffen anfühlt. Hügel aus Hoffnung breiten sich aus, Wege, die
sich verlieren, Wunder, die noch entstehen können. Jetzt kann sie den Roman
ihres Lebens fortführen, mit der Gewissheit, dass irgendwann der richtige
Zeitpunkt gekommen ist, um das Wort «Ende» zu setzen. R.R.

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